Wer den Dichter will verstehen…
Mit seinem Briefroman »Die Leiden des jungen Werther«, in der keine Unterscheidung zwischen dem Dichterischen und dem Wirklichen zugelassen wurde, führt Goethe uns in die dunkelsten Abgründe seiner – und auch unserer Seele.
Welches Geheimnis verbirgt sich hinter Lotte und wer ist Leonore?
Warum konnte »Werther« das Leben von Goethe retten?
Die Leiden des J. W.
Ich hatte gelebt,
geliebt und sehr viel gelitten!
(GG 5,6)
Die glühend Herz aufquillet,
Das mit unsäglich neuer Pein
Sich schmerzvermehrend stillet.
Mich ewig Liebe fühlen,
Und möcht der Schmerz auch also fort
Durch Nerv‘ und Adern wühlen.
Von dir, o Ew‘ger, werden
Ach, diese lange, tiefe Qual,
Wie dauert sie auf Erden!«
(Sehnsucht, aus: Nachlese, BA 2, 67)
Die unsichtbare Geliebte
nun kann ich dir schwören, daß ich nie nie aufhören werde,
das für sie zu fühlen, was das Glück meines Lebens macht.
Wir haben mit der Liebe angefangen und hören mit der Freundschaft auf.
Doch nicht ich. Ich liebe sie noch, so sehr, Gott so sehr.«
(an Behrisch, WA IV. 1, 159)
Goethe hatte eine Leidenschaft erlebt, die nachhaltig auf ihn gewirkt und die ihm fast das Leben gekostet hatte.
Warum die Liebe Goethes zu Anna Katharina Schönkopf (1746-1810) während seiner Studienzeit in Leipzig (1765-1768) in ihrer Bedeutung nicht anerkannt wird, ist unverständlich, zumal es trotz mehr oder weniger gelungener Verschleierungen keine Zweifel geben kann, insbesondere wenn Goethes Briefe und Gedichte aus diesen Jahren beachtet werden.
Ι Seite 17 Ι
Lieb ich, ewig lieb ich sie!
Aufgezogen durch die Sonne,
Schwimmt im Hauch äther‘scher Wonne
So das leichtste Wölkchen nie
Wie mein Herz in Ruh und Freude.
Frei von Furcht, zu groß zum Neide,
Lieb ich, ewig lieb ich sie!
(Glück der Entfernung, 1767/68, BA 1,36)
Gegenüber Eckermann gestand Goethe 50 Jahre später, dass er seinen eigenen jugendlichen Trübsinn nicht aus allgemeinen Einflüssen seiner Zeit und aus der Lectüre einzelner englischer Autoren herleitete, sondern: Es waren vielmehr individuelle, nahe liegende Verhältnisse, die mir auf die Nägel brannten und mir zu schaffen machten, und die mich in jenen Gemüthszustand brachten, aus dem der ›Werther‹ hervorging.
(GG 5,6.)
Ι Seite 26 Ι
Tage zwischen Leben und Tod
(7.11.1767, WA IV.1,132)
Dass diese Verwirrung an die ›Substanz‹ gehen musste, weil sich hier keine Lösung anbot, zeigen auch die vagen Andeutungen eines gefühlten Sterbens in dem sehr kurzen Brief an Behrisch vom Mai 1768:ich gehe nun täglich mehr Bergunter. 3 Monate noch Behrisch, und darnach ist‘s aus. Gute Nacht ich mag davon nichts wissen.
(WA IV. 1, 160)
Die lebensgefährliche Krankheit kam Ende Juli 1768 mit einem Blutsturz zum Ausbruch.
Ι Seite 22 Ι
Das Heil des Körpers
war zu nahe mit dem Heil der Seele verwandt.
(HA 9, 34)
Goethes Gedanken zum Verhältnis des Körpers und der Seele in Bezug auf Krankheit sind bedeutend. Das Heil des Körpers war zu nahe mit dem Heil der Seele verwandt, heißt es in »Dichtung und Wahrheit«.
Seelische Verstimmungen brachte er in Zusammenhang mit zwischenmenschlichen Störungen und Konflikten, den Ursachen jeder neurotischen Entwicklung. Er verglich psychische Schmerzen mit organisch bedingten Krankheiten und die Heilung mit dem Versuch der Natur, selbst-ordnend und erfolgreich einzugreifen, wenn sie ungestört wirken kann.
Goethe kannte die Gefahr, dass der Mensch sterben muss, wenn, die Natur keinen Ausweg mehr findet aus dem Labyrinthe der verworrenen und widersprechenden Kräfte.
Ι Seite 72 Ι
Die Einbildungskraft
gefällt sich
in dem weiten geheimnisvollen Felde der Bilder
herumzuschweifen, und da Ausdrücke zu suchen,
wenn Wahrheit den nächsten Weg nicht gehen darf oder
nicht gerne gehen möchte.
(2.11.1767, WA IV.1,127)
Allerdings war die Beziehungsaufnahme zu Lotte keine echte Hinwendung nach außen, denn in Lotte war die alte Liebe aufgehoben – im Sinne von: bewahrt.
Betrachtet man die Richtung der Flucht, so führte sie uns über Umwege immer wieder zurück zum eigentlichen Werther-Goethe-Ich, das in sich selbst gefangen nach Verschmelzung und Geliebtsein strebte.
Ι Seite 31 Ι
Die Folgen solcher Verschmelzungswünsche ließen Goethe nicht los, sie sind auch Thema des Faust in seiner Begegnung mit dem Erdgeist:
“Weh! ich ertrag dich nicht.”
Ι Seite 64 Ι
Es sind lauter Brandraketen!
gleich dem Pelikan mit dem Blute meines eigenen Herzens
(GG 5, 5 f.)
Ein weiterer Hinweis auf den unmittelbaren biografischen Hintergrund ist durch J. P. Eckermann überliefert. Auf den »Werther« angesprochen, hatte Goethe geäußert:
„Das ist auch so ein Geschöpf, das ich gleich dem Pelikan mit dem Blute meines eigenen Herzens gefüttert habe. Es ist darin so viel Innerliches aus meiner eigenen Brust, so viel von Empfindungen und Gedanken, um damit wohl einen Roman von zehn solcher Bändchen auszustatten. Übrigens habe ich das Buch, wie ich schon öfter gesagt, seit seinem Erscheinen nur ein einziges mal wieder gelesen und mich gehütet, es abermals zu thun. Es sind lauter Brandraketen! Es wird mir unheimlich dabei, und ich fürchte den pathologischen Zustand wieder durchzuempfinden, aus dem es hervorging.“
(GG 5, 5 f.)
Ι Seite 117 Ι
Zum Bleiben ich, zum Scheiden du erkoren,
Gingst du voran – und hast nicht viel verloren.
(Trilogie der Leidenschaften. An Werther)