Die magischen Worte
Du mußt versteh’n!
Aus Eins mach Zehn,
Und Zwei laß geh’n,
Und Drei mach gleich,
So bist Du reich.
Verlier die Vier!
Aus Fünf und Sechs,
So sagt die Hex’,
Mach Sieben und Acht,
So ist’s vollbracht:
Und Neun ist Eins,
Und Zehn ist keins.
Das ist das Hexen-Einmaleins!
Wer will sich mit den Narrn befassen?
Gewöhnlich glaubt der Mensch,
wenn er nur Worte hört,
Es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.
(GG 4, 352)
Dass ausgerechnet die rätselhaften Hexenworte Goethes Weltanschauung und Lebenseinsichten offenbaren, klingt unsinnig…
(WA IV. 43, 196)
Ι Seite 2 Ι
Löst sich das Rätsel einmal, bin ich wie allegescheit.«
(Der Vorsichtige; aus dem Nachlass, BA 2, 512)
So legt der Dichter ein Rätsel,
Künstlich mit Worten verschränkt,
oft der Versammlung ins Ohr.
Das trifft auch für den Text des Hexeneinmaleins zu. Der Lösungsversuch führt über die künstlich mit Worten verschränkten Anweisungen des Dichters. Ist dem Dichter jedes Interpunktionszeichen wichtig, so ist ihm auch jedes Wort von Bedeutung. Wer ihn beim Wort nimmt, nimmt ihn ernst. Er möchte verstanden werden. Lassen wir uns also weder von den Sinnen noch von den Worten verwirren und nehmen wahr, wohl wissend, dass es ganz dem Anliegen der Hexe, d.h. dem Anspruch Goethes, widerspräche, nur irgendeine unverstehbare Dummheit zu fabulieren.Die übergeordnete Anweisung fordert den Menschenverstand ein (und auch eine Unterbrechung der alltäglichen Handlungen).
Jetzt können wir uns auf des Rätsels Lösung einlassen, hören allein auf die Anweisung, denn die Hexe verspricht:
Der Wissenschaft,
der ganzen Welt verborgen!
Und wer nicht denkt,
Dem wird sie geschenkt…“
(V.2567ff.)
Ι Seite 34 Ι
Das ist die Welt
Sie steigt und fällt
Und rollt beständig;
Sie klingt wie Glas –
Wie bald bricht das!
Ist hohl inwendig.
Hier glänzt sie sehr,
Und hier noch mehr:
Ich bin lebendig!
Mein lieber Sohn,
Halt dich davon!
Du mußt sterben!
Sie ist von Ton,
Es gibt Scherben.
Gestaltung, Umgestaltung
Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung.
Umschwebt von Bildern aller Kreatur.
Die GoetheHexe hat sich in ihren eigenen Kreis eingeschlossen, sie bringt sich selbst vollständig als Ganzes ein. Im Besitz aller Quellen, aus denen sich das Universum begründet, kann sie hier ganz nach ihrer Art wirken: alle Mittel wendet sie an, auch das Nichts, löst alles auf, vermischt es neu. Sie macht neue RaumZeiten…
Ι Seite 137 Ι
Es irrt der Mensch, solang‘ er strebt.
(Goethe 1831; GA 16, 247)
Das heranwachsende Kind ist weise in diesem Sinne.“
(HA 8,296)
Wie alles sich zum Ganzen webt
Eins in dem andern wirkt und lebt!
Wie Himmelskräfte auf und nieder steigen
Und sich die goldnen Eimer reichen!
Mit segenduftenden Schwingen
Vom Himmel durch die Erde dringen,
Harmonisch all das All durchklingen!
Die ältesten Überlieferungen mystischen Wissens stammen aus Zeiten, in denen die Menschen mit ihrer Vorstellung von der untrennbaren Einheit einer ›männlichen und weiblichen‹ Gottheit einem ganzheitlichen Denken näher waren als in allen nachfolgenden Epochen. In der zunehmenden Vereinzelung von Natur-, Kunst- und Geisteswissenschaften, von rationaler Forschung und religiösem Gespür, verliert sich das ethische Empfinden eines von Ehrfurcht getragenen Umganges mit der Natur mit den bekannten verheerenden Folgen.
Ι Seite 144 Ι
ENDLICH ENTDECKT
JEDEN FREUET DIE SELTNE,
DER ZIERLICHEN BILDER VERKNÜPFUNG,
ABER NOCH FEHLET DAS WORT,
DAS DIE BEDEUTUNG VERWAHRT.
IST ES ENDLICH ENTDECKT,
DANN HEITERT SICH JEDES GEMÜT AUF
UND ERBLICKT IM GEDICHT
DOPPELT ERFREULICHEN SINN.
Das ›Sinnlosigkeitssyndrom‹ der vermeintlich zufällig aneinandergereihten Ausdrücke des Hexen1×1 hat sich als ein Anspruch an höchste Freiheit des Denkens und der Wandelbarkeit der Welt entpuppt. Für Goethe befand sich alles in Raum und Zeit in einer dynamischen Metamorphose; es gibt nichts Festgelegtes. Auch wenn keins Zehn ist, also niemals vollkommen sein wird oder vollständig erkannt werden kann, zeigt uns die GoetheHexe, dass sich gleichsam alles um uns ständig wandelt, und wir aufmerksam, ehrfürchtig und mit wachen Sinnen den Weg zu unserer Erfüllung gehen sollten.
Ι Seite 145 Ι